Das Ende der Kunst?
Das Titelbild des neuen NACHHALL ist nicht nur wunderschön, es stellt eine Provokation dar und prophezeit das Ende der Kunst.
Unser Titelbild hat kürzlich den ersten Preis gewonnen. Obwohl der jährliche Kunstwettbewerb der Colorado State Fair selbst Kunstkennern bisher wenig bekannt gewesen sein wird, erregte die Meldung blitzartig und weltweit Aufsehen. Sogar die New York Times berichtete unter der Schlagzeile: „Ein KI-generiertes Bild hat einen Kunstpreis gewonnen. Die Künstler sind nicht glücklich.“ (https://archive.ph/66vFV)
KI steht für „Künstliche Intelligenz“ und ist der nächste große Schritt der Digitalisierung. Das Programm, mit dem das Gemälde erschaffen wurde, nennt sich Midjourney. Bekannt sind auch z.B. DALL-E 2 und Stable Diffusion. Mit diesen Programmen, so das Versprechen der Hersteller, würde es jedem Menschen möglich, komplexe, abstrakte oder fotorealistische Werke zu erstellen, indem er mit der Maschine chattet. Das Gemälde ist also nicht nur wunderschön, es stellt eine Provokation dar und prophezeit das Ende der Kunst.
Der „Künstler“, der mit dem Midjourney-Bot gesprochen hat und das Werk unter dem Namen „Théâtre D‘opéra Spatial“ zum Wettbewerb einreichte, heißt Jason Allen. Jetzt entbrennt ein Streit, wer der eigentliche Urheber ist – Mensch oder Maschine? Künstler werfen Allen vor, er habe geschummelt. Er erwiderte: „Die Künstliche Intelligenz ist ein Werkzeug, wie ein Pinsel. Und es steckt ein kreativer Geist dahinter.“ (https://archive.ph/dwYQF)
Mir kam das berühmte Affen-Selfie des Makaken namens Naruto in den Sinn. Die Tierschutzorganisation Peta klagte damals auf Urheberschaft des Affen an dem Bild, da dieser ja selbst den Auslöser gedrückt hatte. Das Urteil erging zugunsten der Forscher, die die Kamera aufgestellt hatten.
Es wird auch interessant sein, was in den Nutzungsbedingungen von Midjourney und den weiteren KI-Programmen und Firmen steht und in Zukunft stehen wird. Gewinnt der Affe, also der Mensch – oder die Forscher und damit die KI? Oder bekommen am Ende die Digitalkonzerne alles?
Wenn sich die Technik wie erwartet weiterentwickelt, wird es bald leicht möglich sein, Fotos mit tristem Wolkenhimmel auf Facebook oder Instagram hochzuladen und mit ein paar Befehlen strahlenden Sonnenschein und blauen Himmel hineinzurechnen. Die KI wird dann Realitäten neu schaffen und zumindest in der Erinnerung das Fake zum Faktum machen.
Vielleicht bauen Kamera- und Smartphonehersteller die KI auch in die Aufnahmegeräte selbst. Dann erscheint jedes Gesicht schon retuschiert, falten- und pickelfrei. Und das Alter der abgebildeten Personen lässt sich auch einstellen.
FaceApp führte 2019 die Hitlisten der beliebtesten Apps an. Dass die Fotos dabei in die Cloud hochgeladen werden und der Betreiber Wireless Lab in St. Petersburg firmiert, störte die Anwender nicht. Auch in unserem Kindergarten wurden Fotos der Kinder mittels KI gealtert und ausgedruckt. Putin kennt jetzt also unseren Jüngsten und weiß auch, wie er als 80jähriger aussehen wird;-)
Auf YouTube gingen mehrere Videos viral, in denen jemand der KI jede Zeile aus „Bohemian Rhapsody“ als Befehl für die Generierung jeweils eines Bildes gegeben hat. Ein Kommentar beschreibt die Unzulänglichkeit der Synthese von menschlicher und künstlicher Kreativität treffend:
Es scheint, als ob die KI immer dann, wenn ihr kein Bild einfällt, einfach sagt: „Scheiß drauf, hier ist der Rücken von jemandem vor einem hübschen Hintergrund.“
Ich habe es selbst ausprobiert. Sogar meine Kinder hatten Spaß daran, dem Bot Bildbeschreibungen zu füttern und das meist klägliche Scheitern zu belachen. Da wächst einem Einhorn das Horn aus dem Rücken. Ein Heißluftballon erhält ein Fenster. Oder ein Affe trägt plötzlich Brille. Der Zufall führt offenkundig Regie. Oder ist das die Kreativität? Der Apparat allein macht also noch kein gutes Bild. Die Eingabe der „richtigen“ Worte und die Idee scheint noch wichtiger!
Die kostenlose Demoversion ist auf 25 Bilder beschränkt. Danach kostet Midjourney ab monatlich 10 bis 600 pro Jahr. In den Nutzungsbedingungen steht (noch): „Sie sind grundsätzlich Eigentümer aller Assets, die Sie mit Midjourne‘s Bilderzeugungs- und Chatdiensten erstellen.“ Allerdings folgt dann im weiteren Verlauf: „Bitte beachten Sie: Diese Bedingungen sind nicht endgültig, und wir werden sie im Laufe der Beta-Phase immer wieder überarbeiten.“ (https://www.midjourney.com)
Jetzt sind alle Menschen aufgerufen. Schickt mir eure Kunstwerke für den nächsten NACHHALL-Titel oder empfehlt mir Künstler und Künstlerinnen, die beseelt sind und mit ihrer göttlichen Schaffenskraft uns alle erfreuen!
Der NACHHALL erscheint monatlich. Das Pro-Bono-Projekt des massel Verlags will den Umgang mit Nachrichten kultivieren und unabhängigen Journalismus fördern. Das Argument wird vom Sprecher getrennt. Alle Texte werden auf hochwertigem Papier nachhaltig gedruckt.
Die Redaktion des NACHHALL sucht permanent nach spannenden Autoren und kontroversen Themen. Wir freuen uns über konkrete Vorschläge, damit auch wir aus unserer Informationsblase herauskommen.
Jeder kann in vielfältiger Weise unser Projekt unterstützen, ob als Autor, Redakteur, Träumer, Verkäufer oder Social-Media-Manager. Komm ins Team!
redaktion@nachhall.net