Editorial NACHHALL Nr. 27
Wir alle zählen, wir wünschen ein Land in dem ALLE gehört werden! Wenn wir zusammenhalten, können wir eine Menschheitsfamilie werden. Mit Solidarität und Verständnis schaffen wir das.
Die ARD Themenwoche beschäftigte sich vom 6. bis 12. November 2022 mit dem „Wir“. Eine Sendung trug den Titel „Wie geht Wir? – Experiment am Berg“, in der Dokumentation trafen sechs Menschen aufeinander, die gemeinsam einen 4000er in den Schweizer Alpen besteigen sollten.
Die Dokumentation zeigte sehr authentisch (auch wenn sie entgegen der Verlautbarung der ARD auch gescripted gewesen sein kann) wie schwer es ist, dass sich die verschiedenen Gruppen unserer Gesellschaft verständigen. Wir müssen reden, aber gelingen kann es nur, wenn wir uns zuhören und die Person und Lebenswahrheit des jeweils anderen kennenlernen wollen.
Am ersten Abend stellten sich die Teilnehmenden gegenseitig vor: David, 46 Jahre alt, Unternehmer aus NRW; Bjeen, 30 Jahre alt, Integrations-Preisträgerin aus Hessen; Frieder, 52 Jahre alt, Zweiradhändler aus Sachsen; Maja, 24 Jahre alt, Klima-Aktivistin aus Bayern; Antonio, 50 Jahre alt, Fahrradkurier aus Hessen; Philine, 32, Queere Theater-Regisseurin aus Baden-Württemberg.
Zwei Szenen sind mir und vielen Zuschauern besonders im Gedächtnis geblieben, weil sie die Doppelmoral einiger Menschen anschaulich machten. Als Bjeen erfuhr, dass Frieder aktives Mitglied der AfD ist, verweigerte sie das Gespräch und verließ am darauf folgenden Tag das Experiment. Sie wolle der AfD keine Bühne bieten, sagte sie und beraubte sich damit der Möglichkeit einen Menschen kennen und verstehen zu lernen. Frieder wurde mit ihrem Vorurteil gebrandmarkt – Basta! Für eine gebildete Frau, die von der Bundesregierung für ihre Integrationskurse ausgezeichnet wurde, ein starkes Stück.
Bjeen selbst schreibt auf ihrer Website: "Deutschland ist unser (neues) Zuhause; Wenn wir zusammenhalten, können wir es zu einem besseren Ort machen. Mit Solidarität und Verständnis schaffen wir das." Schade, dass diese Solidarität und das Verständnis nur von ihr eingefordert wird, sie aber nicht bereit scheint, es einem Christen, 6-fachen Vater, Arbeitgeber von 14 Menschen und Mitglied im Sportverein entgegen zu bringen.
Ich zitiere einige andere Zuschauerkommentare, die das entstandene Dilemma thematisieren:
Bjeen geht jeden Problem aus dem Weg. Genau wegen solchen Menschen gibt es kein Wir. Man muss doch in der Lage sein, sich andere Meinungen anzuhören. Was Bjeen gemacht hat, ist einfach nur feige.
Und natürlich wird es (z.B. in anderen Kommentaren) nun ihr angekreidet, sie würde die Spaltung befördern. Ich möchte noch mal kurz erinnern: es geht hier nicht darum, mit Menschen, die eine andere Meinung haben, zu diskutieren. Rassismus ist keine Meinung! Rassismus tötet!
Solche Sendungen sollten öfter im Fernsehen ausgestrahlt werden, nicht nur zu besonderen Anlässen. Interessant und originell ist die ungewöhnliche Örtlichkeit, in der sich die lebensnahen Diskussionen etc. abspielen. Danke.
Die zweite Szene kommt unerwartet und wirkt in ihrer Emotionalität tatsächlich inszeniert. Frieder beginnt auf der Wanderschaft zu schluchzen, ruft Philine zu sich und wirft sich ihr in den Arm. Unter Tränen entschuldigt er sich bei ihr für sein Vorurteil: eine „Kampflesbe“ hatte er erwartet, aber ein liebe Freundin gefunden. So geht Wir! Die Gruppe und die Zuschauer jubeln über die gelungene Missionierung des verlorenen Sohnes. Dabei ist mir diese Szene ein noch größeres Ärgernis als die Szene mit Bjeen. Denn Philine hätte jetzt die Chance sich ihrerseits bei Frieder zu entschuldigen und ihr queeres Weltbild zu hinterfragen. Vielleicht sind doch nicht alle Menschen, die sich in der AfD engagieren oder diese Pfui-Partei wählen, Teufel? Stattdessen verlangt Philine von Frieder die Partei zu verlassen, was dieser am Abschiedsabend auch feierlich verspricht.
Dieser Widerspruch kommt auch in den Zuschauerkommentaren zur Sprache:
Negativer Höhepunkt war für mich der “Zusammenbruch” des erfolgreich bekehrten AfDlers in den Armen der lesbischen Theaterfrau. Wie plump und schlecht gescripted kann politische Propaganda sein?
Umso wichtiger, nicht vorschnell zu urteilen, wie am Anfang der Doku leider geschehen. Umso wichtiger aber auch, die wahren Ziele der AfD zu entlarven Philine hat es schön gesagt: “Die AfD steht genau für Vorurteile, für Hass, für Verletzungen…”
Mit dem AFD‘ler begegnet mir ein aufrichtiger Mensch, der die Größe zeigt, zuzugeben einen falschen Weg beschritten zu haben. Er wird in der Gruppe (zu Recht) bejubelt. Aber mich beschleicht das Gefühl, dass man mehr darüber jubelt, einen „Verirrten“ zurecht gebracht zu haben, als darüber, wie das Wir gerade im Unterschiedlichem erst wächst.
Mir fallen unweigerlich die Worte Jesu ein: „Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken! Du Heuchler!“ Matthäus 7:4
Ich kann nicht über die AfD urteilen, noch weniger über ihre Mitglieder. Ich kenne weder die Ziele der Partei, noch habe ich Menschen kennengelernt, deren Herz wirklich für die AfD schlägt. Alles was ich bisher über diese Partei gehört habe, sind grobe Vereinfachungen und Unterstellungen. Wenn aber ein Mitglied dieser Partei etwas kritisiert, so wie Frieder, der sein christliches Weltbild in keiner anderen Partei mehr vertreten sieht, dann ist er ein rechtsextremer Rassist. Und solche Leute wie Frieder darf man diskriminieren und demütigen.
Die wichtige Erfahrung: Wer sich dem menschlichen Kontakt öffnet und sich auf sein Gegenüber einlässt, kann viel bewirken. Wer an Schlagworten wie “der Partei XY keine Plattform bieten” festhält, befördert die Spaltung aus einer Position der Angst, ähnlich wie vor einem Virus.
“Man redet nicht mit XYZ.” ist trotzdem völlig kontraproduktiv. Sie hat u.a. Frieder der Chance beraubt, etwas dazuzulernen. Denn dass dieser weder ein eingefleischter Rassist, noch ein Neonazi ist, dürfte wohl deutlich geworden sein. Da, wo ich herkomme, wollen leider Viele nicht verstehen, wie brandgefährlich der rechtsextreme Kern der AfD ist.
Doch viel wichtiger und gelungener war der innere Prozess der Gruppe und das ehrliche Aufeinanderzugehen. Das hat mich tief beeindruckt. Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft insgesamt lernen genau so einen Weg einzuschlagen, der von gegenseitigem Respekt und Empathie getragen wird.
Auch wenn ich Frieder nicht persönlich kennengelernt habe und die Dokumentation der ARD natürlich zu kurz greift, um diesen Menschen ehrlich beurteilen zu können, so möchte ich ihm doch das Schlußwort dieses Editorials überlassen und ihm Gottes Segen wünschen.
»Überhaupt geht es in unserer Gesellschaft immer öfter darum, sich gegenseitig zu beweisen, dass man im Recht ist. Das führt aber dann eben zu keinem Wir. Da muss man sich dann vielleicht mal zuhören…«
Frieder Jäckel, Ölsnitz
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