Im Haifischbecken
Oder der Schnuller im Gesicht der andern. Linksammlung zum nächsten Editorial für den NACHHALL und ein paar unsortierte Gedanken von Twitter bis Ehrenamt.
Als schon fast alter weißer Mann und auf dem besten Wege dahin fällt mir eines immer noch schwer: gleichzeitig zu denken und diese Gedanken verständlich zu formulieren. Vermutlich liegt es an einem Gendefekt meinerseits und der geschlechtsbedingt fehlenden Multi-Tasking-Fähigkeit andererseits. Sobald die Industrie ein Gehirn-Computer-Schnittstelle auf den Markt bringt, bin ich willige Testperson. Ich könnte in Haweii am Strand in der Sonne liegen und einfach denken, während sich dieser Blog mit klugen Texten füllt. Eine KI-Auto-Textkorrektur wäre natürlich auch noch wünschenswert.
Wieviele Komma, Grammatik und Rechtschreibfehler habe ich schon? (Von Denk- und Logikfehlern einmal abgesehen, diese wären verzeihlich, oder andersherum?)
Also beginnen wir die Reise in die Schaltzentrale unserer westlichen Gedankenfabrik namens Twitter: Dorthin verirre ich mich selten, aber widerwillig und was offenbart sich mir? Der Heiland in Gestalt von Tucker Carlson hat eine neue Heimat hier auf Erden gefunden. Elon Musk sei Dank. Amen!
Jeder Mensch hat seine eigene Lebenswirklichkeit. Und das ist gut so! Jeder hat Vorbilder und Meinungen, die grundverschieden sind. Ich kenne weder Elon Musk noch Tucker Carlson persönlich und beide könnten mir ganz ehrlich am Arsch vorbeigehen. Jetzt muss ich leider doch ausholen;-)
Twitter halte ich gleichzeitig für gefährlich und genial. Mancher Tweet, obwohl in seiner Grundidee auf nur 280 Zeichen begrenzt, hätte in meinen Augen einen Literatur- oder Friedensnobelpreis verdient. Auf der anderen Seite die manigfaltige Manipulation durch Trolle und Bots und die Atomisierung der Wahrheit durch Anonymität und Geschwindigkeit. Fake News, Desinformation und Verleumdungen verbreiten sich in den jeweiligen Blasen wie Lauffeuer. Fotos und Kommentare gehen viral!
Das ist nicht mehr gesund! Assoziationen mit Virenerkrankungen und bösartigen Krebsgeschwüren liegen nahe. Jetzt bin ich selbst in meine eigene Falle getappt. Böse? Sind Elon Musk und Tucker Carlson böse? Oder nur gefährlich? Warum?
Endlich werden doch die Meinungen befreit, durch Propaganda offengelegt. Das Video “We’re back.” wurde zum jetzigen Zeitpunkt (11.05.2023 9:30 Uhr) 117,7 Mio. Mal angezeigt, und zählt 185.661 Retweets und 839.639 “Gefällt mir”-Angaben. Sind das Fakten? Oder ist das schon Manipulation?
Mein Misstrauen ist geweckt, wenn Geschäftsleute involviert sind. Und das soll jetzt nicht heißen, dass ich etwas gegen Geschäfte habe, oder die Menschen im Business Anzug verachte. Ganz im Gegenteil. Der Sinn und Zweck eines Geschäftes ist es, Geld zu verdienen. Punkt.
Ich unterstelle Musk und Carlson also erstmal ein Geschäft. Ob beide an der Wahrheit, einer wirklichen Meinungsfreiheit, einer besseren Welt interessiert sind, kann ich weder bejahen noch bestreiten. Was ich aber sicher annehmen kann, dass beide mit dem Deal ein gutes Geschäft machen (werden). Denn sehr viele gutgläubige und leidgeprüfte Weltverbesserer, teilen und kommentieren dieses Video mit Begeisterung, während genausoviele kritische und hasserfüllte Weltverbesserer den erstgenannten das Wort verbieten wollen und Musk mitsamt Carlson auf den Mond wünschen!
Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Ich weiß nicht, ob ich das Video gut finden soll, oder schlecht. Ob es die Welt verbessert oder die Welt in noch größeres Chaos stürzt. Ich weiß nicht, ob das Video ehrlich gemeint ist, oder nur dem Profit eines Multi-Milliardärs dient.
Krasser Ortswechsel. Gleicher Ton. Vielleicht sogar noch eine Spur agressiver, was mir gestern Abend wirklich Angst gemacht hat. Elternabend im Sportverein. Die Gerüchteküche ist übergekocht und der Geschäftsführer hat eingeladen. Er will die Sorgen und Nöte hören. Nach fast dreistündiger hitziger Diskussion ist mein resigniertes Fazit, dass die Lebenswirklichkeiten total auseinanderfallen. Das einzige, das man allen Anwesenden zugute halten kann, ist, dass sie es gut meinen. Am Ende herrscht (im übertragenen Sinn) Krieg.
Und in diesem Beispiel reden wir nicht von Geschäften. Dort gilt: “The Winner takes it all.” Nein, hier geht es um das Ehrenamt, um unsere Kinder, um Sport. Müssten hier nicht gekränkte Eitelkeiten zurückstecken? Oder geht es am Ende doch wieder nur um’s Geld?
Einschub: Fassen wir den Gedanken Geld und Geschäft etwas weiter. Die Währung heute heißt oftmals “Ansehen”. Der Manager und Philosoph Michael Andrick hat dies in seinem Essay “Das Rätsel unserer Normalität” gut erklärt.
»Das neuzeitliche Bedürfnis nach intellektueller Rechtfertigung unserer Lebenspraxis und Moral zeigt, dass es für uns „Neuzeitler“ keine gemeinsame, einfach als natürlich und unstrittig verstandene Lebenswirklichkeit gibt.«
– Michael Andrick, multipolar
Was ist also der Systemfehler im Verein oder in jedem Einzelnen seiner Mitglieder? Es gibt keine gemeinsame Lebenswirklichkeit mehr. UND die Fähigkeit zur Kommunikation hat durch die Digitalisierung erheblich gelitten. Mir fehlen die sprachlichen Mittel und wissenschaftlichen Erkenntnisse um dies zu erklären oder zu belegen. Es handelt sich um meine subjektive Wahrnehmung.
Obwohl heute jeder dank der digitalen Medien in der Lage wäre, sich umfassend zu informieren, tritt das genaue Gegenteil ein, niemand weiß Bescheid. Obwohl oder weil die “Funktionäre” alle digitalen Kanäle bespielen und ihr Handeln transparent erklären, lassen sich erwachsene Menschen wie kleine Kinder trotzig auf den Boden fallen und schreien: “Wo ist mein Schnuller?” Das lauteste gewinnt.
Und damit sind wir bei den Kindern und kommen zum Ende dieser wirren Aneinanderreihung von akuten Gedanken. Wenn die eigene Wunscherfüllung, ob es nun der Schnuller, Geld oder Ansehen sind, zum Lebensmittelpunkt werden, dann ist jede Kommunikation zum Scheitern verurteilt. Dann sind die anderen immer die Bösen, weil sie mich nicht befriedigen (wollen/können).
Welches Kind würde in seinem Trotz nach den Gefühlen der Eltern fragen und sich für den Grund dieser Schnuller-Abwesenheit informieren wollen? Eben.
Da aber Kinder so wichtig sind und so schutzlos und wir uns alle einig sind, dass ihnen die Zukunft gehört, müssen sich verdammt noch mal alle Erwachsenen nach den Wünschen der Kinder richten. Wenn sie also zum Sport gehen, dann nur zum Trainer ihrer Wahl, der ihnen auch zum Geburtstag gratuliert, der sie nicht zuviel stresst, der sich selbst noch verhält wie ein Kind. Ja, ja, ja – auch ich wünsche mir Bullerbü. Lebenswirklichkeit? Kommunikation?
Genau. Der Schnuller = Smartphone! Kaum hat das Kind den Schnuller in die Ecke gespuckt und den ersten Drei-Worte-Satz hervorgekozt (Entschuldigung für diese Entgleisung, aber ist doch wahr!), MUSS es ein Spartphone haben. Damit es mit anderen Kindern im Chat sinnlose oder zum Teil auch menschenunwürdige Drei-Wort-Sätze und Schlimmeres austauschen kann. Und es lernt ganz schnell sich zu vergleichen (Instagram, TikTok), befindet sich in den sicheren Händen der Werbeprofis (Google, Meta) und verlernt so vielleicht auch das eigentliche Leben (Sport, Kommunikation, siehe oben).
Zufällig sah ich am 4. Mai 2023 die Sendung von Markus Lanz (https://kurz.zdf.de/AM80/) in der die Schulleiterin Silke Müller zu Gast war. Frau Müller hat ein Buch geschrieben mit dem Titel “Wir verlieren unsere Kinder”, also Vorsicht, ihr Interesse mag auch vordergründig kommerziell sein. Trotzdem halte ich ihre These, dass ein Smartphone im Kinderzimmer wie ein „Wurf ins Haifischbecken“ sei, für sehr diskutabel.
Denn, obwohl ich noch nie in ein Haifischbecken geworfen wurde, kann ich mir die Situation doch sehr gefährlich ausmalen. Dabei ist ein Smartphone in Kinderhänden etwas ganz anderes, hier kann nicht nur das Kind selbst Schaden nehmen, es kann mit dem Smartphone als Waffe auch andere Kinder verletzen! Schlimmer noch. Mit den im Kindesalter erlernten (vielleicht noch harmlosen) Techniken kann es als Erwachsener dann ebensowenig umgehen und zerstörerische Kräfte entfalten.
Vielleicht ist es also doch manchmal ganz angebracht (ohne Wertung) den Kindern und infantilen Erwachsenen Grenzen zu setzen. Und vor allem es als Muster zu erkennen, wenn Opferrollen zur Durchsetzung von eigenen Interessen missbraucht werden. Natürlich gehört meine Sympathie den schutzlosen Kindern und allen schuldlosen Opfern.
Wenn der Schnuller im Gesicht also den Weg zur eigenen Nase nicht versperrte, so könnte sich jeder an dieselbige fassen. Barrierefrei: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu!