Umstritten und ordentlich
Ein Nachruf auf Gerhard Lohfink im NACHHALL Nr. 42. Gastbeitrag von Martin Sell
Am 2. April ist mein Freund Gerhard Lohfink im Alter von 89 Jahren gestorben.1 Er war Priester, Theologe und Buchautor. Als Ko-Zelebrant feierte er mit uns Hochzeit und wir standen seitdem in regelmäßigem E-Mail-Verkehr. Er kommentierte die Geburt meiner Söhne und unsere jährlichen Weihnachtskarten.
Ein Nachruf im Nachhall? Ist das passend? Wäre das Gerhard recht? Wie kann ich als halb so alter, theologisch ungebildeter Laie ihn angemessen würdigen? In der Presse erschienen bereits Nachrufe, von Personen, die ihn weit besser kannten, ihm näher standen, sich in wissenschaftlichem Austausch mit ihm befanden. Ein Artikel bezeichnete ihn zuerst in der Überschrift als „umstrittenen Theologen“, änderte sie dann aber nachträglich in: „bekannter Theologe gestorben“. Bei der Beerdigung und beim Requiem wurde er sehr treffend als „ordentlich“ und „bescheiden“ vorgestellt.
Es gibt Menschen, denen begegnet man und fühlt sich direkt verbunden – oft unerklärlich. Vielleicht ähneln sich Biografie und Genetik, vielleicht führt Gottes Hand und berührt zwei Herzen. Gerhard war ein wunderbarer Mensch. Er konnte sehr klar und fundiert formulieren, blieb aber immer nahbar und nahm die Welt, sein Gegenüber, wahr. Als Beispiel möchte ich aus seinem Dank für unsere Weihnachtskarte 2010 zitieren:
Das Zitat von Matthias Horx finde ich besonders gut. Daraus lässt sich einmal eine Predigt machen. Etwa so: Wo es keine Gottesfurcht mehr gibt, fürchtet man sich vor allem möglichen. Das steht übrigens schon in den Psalmen: „Da, es überfällt sie (die Gottlosen) gewaltiger Schrecken, ohne dass etwas Erschreckendes da ist“ (Ps 53,6).
Meine Eltern kamen 1986 nach München zur Katholischen Integrierten Gemeinde. Gerhard fast zeitgleich (1987) als bekannter Universitätsprofessor aus Tübingen zusammen mit seinen damals schon betagten Eltern. Ein Neuanfang für uns beide. Wir begegneten uns mehrfach in der Gemeinde. Ich konnte seine Predigten und Vorträge hören, mit ihm ganz gewöhnlich Mittagessen und über Alltagsdinge reden – aber auch Wallfahren, Feste feiern und seine Menschlichkeit erfahren.
So war das Evangelium bei seinem Requiem besonders passend – die Emmausgeschichte. Für mich ist beim Wandern und Brotbrechen mit Gerhard und in Gerhard Jesus leibhaftig gegenwärtig gewesen.
Mit Gerhards Worten zur Geburt unseres 2. Sohnes möchte ich uns allen Mut zusprechen, nicht nur den Eltern, sondern der ganzen Gesellschaft:
Ich freue mich aber auch über seine Eltern, die in einer Gesellschaft, in der viele lieber mit Hündchen spazieren gehen, den Mut haben, einen Kinderwagen zu schieben und Kinder zu nähren, sie aufzuziehen, an ihnen zu leiden und sich an ihnen zu freuen.
Mut haben, auch „umstritten“ zu sein! Das bedeutet für mich heute Christ zu sein. Jesus hat sich mit Steuereintreibern, Ehebrechern und Aussätzigen gemein gemacht. Gerhard wird als Gerechter in den Himmel aufgenommen und er wird dort, wie schon im Leben, auch mit all jenen Umgang pflegen, die bereits auf der Erde verfolgt wurden. Theologie ist nichts Fernes, sondern sie beginnt hier und jetzt mit Kinderwägen, mit Leid und Freud!
Vielen Dank, lieber Gerhard, für deine Freundschaft und Auferstehung!
Dein Martin
Martin Sell schreibt in seiner Verlagsvorstellung (11.9.23):
Die folgenden zwei Bücher sind nicht in meinem Verlag erschienen, sind aber vielleicht dennoch hilfreich, um meine Vorstellung zu verstehen. Die Begegnung: Eine Geschichte über den Weg zum selbstbestimmten Leben2 von Jochen Schweizer und Im Grunde Gut: Eine neue Geschichte der Menschheit3 von Rutger Bregman.
Nach all den Begegnungen und literarischen Vorbildern könnten Sie zu dem Schluss kommen, dass ich mich von dem seit meiner Kindheit hochgehaltenen katholischen Glauben entfernt habe. Das ist richtig und doch irgendwie falsch. Meiner Meinung nach benötigen wir diese allumfassende Offenbarung des einzig wahren „Mensch und Gott“ heute umso dringender. Nur so scheint mir Vergebung möglich. Außerdem schadet es sicherlich nicht, dem anderen erstmal gute Absichten zu unterstellen. Aus diesem Wissen heraus können wir dann befreit streiten – und die Welt heilen.
Das Titelbild von Eva Urbans Buch „War da was?“ ziert eine Kirchenruine. Es visualisiert recht gut meine oben angedeuteten Gefühle. Aber es ist ein früher Morgen und so bin ich voller Zuversicht, dass aus diesen Steinen neues Leben erwacht. Unser zweites Hardcover-Buch des Jahres 2023 ist letztlich auch nur mit diesem Hoffnungsschimmer am Horizont lesbar. „Gefangen in einer Welt voller Widersinn“ von Linus Förster nimmt den Strafvollzug in den Blick. Glauben wir noch an die Möglichkeit der Resozialisierung? Ich wünsche Linus Förster, dass er als Autor und Mensch wertgeschätzt wird und dass Veränderung, vielleicht Reformen möglich werden.
Die erlebte kirchliche Wirklichkeit ist für Viele zutiefst enttäuschend, ja verstörend. Die biblischen Texte vielfach fremd und unverständlich. Lohnt sich die Frage nach dem Glauben im 21. Jahrhundert überhaupt noch? Ja, sie lohnt sich, ist die Autorin überzeugt. Sie bringt ein Argument vor, das die jüdisch-christliche Weltsicht auszeichnet: die real geschehene Geschichte.
Eva Urban erzählt diese Geschichte so, dass wir diesen Weg heute wieder nachvollziehen können. Beginnend bei den Anfängen des Volkes Israels führt der Weg bis in unsere Gegenwart. Ohne Beschönigung, mit überraschenden Details und unüblichen Perspektiven hilft sie uns, das Wesentliche am christlichen Glauben und an der Kirche wiederzufinden.
Ein Buch für Enttäuschte und Zweifelnde, die das Fragen und Hoffen noch nicht ganz aufgegeben haben – oder einfach für alle Neugierigen.
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Empfehlungen (Filme, Bücher & Podcasts)
Aus der Pressemeldung des Herder-Verlags:
Gerhard Lohfink, geboren am 29. August 1934 in Frankfurt am Main, entstammt einem katholischen Elternhaus. Nach dem Abitur studierte er ab 1955 Philosophie und Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1960 empfing er vom Bischof seiner Heimatdiözese, Wilhelm Kempf, die Priesterweihe; es folgte 1961–63 eine Zeit als Kaplan in Oberursel. 1964 schickte ihn sein Bischof zum Promotionsstudium an die Universität Würzburg; wo Gerhard Lohfink 1971 bei Rudolf Schnackenburg zum Dr. theol. promovierte. 1973 folgte die Habilitation.
1973 wurde Lohfink zum Wissenschaftlichen Rat für das Fach Neues Testament an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen ernannt, 1976 folgte ebenda der Ruf als Ordinarius für Neues Testament. 1987 schied er auf eigenen Wunsch aus dem Universitätsdienst aus, um in der Katholischen Integrierten Gemeinde (KIG) leben und arbeiten zu können (2020 in der Erzdiözese München aufgelöst). Neben seinem Engagement in der Gemeinde widmete er sich einer intensiven Vortragstätigkeit und erwarb sich dadurch eine treue Hörer- und auch Leserschaft.
Bücher von Gerhard Lohfink (Auswahl)
Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Kirche im Kontrast, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-460-30034-7.
Braucht Gott die Kirche? – zur Theologie des Volkes Gottes. Herder, Freiburg im Breisgau 1998, ISBN 3-451-26544-3.
Jesus von Nazareth. Was er wollte, wer er war. Herder, Freiburg im Breisgau 2011, 7. Auflage 2018, 8. Auflage 2020, 9. Auflage 2022, ISBN 978-3-451-34095-6.
u.v.a.
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